Die Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) versammelt alle zu Lebzeiten Steiners publizierten Werke und Aufsätze, die nachgelassenen Manuskripte, Fragmente und Briefe sowie die in Zuhörermitschriften überlieferten Vorträge Rudolf Steiners und Dokumentationen des künstlerischen Werks.
Die Abteilung Schriften umfasst die von Steiner geschriebenen Texte, das heißt die selbstständigen Werke (Bände 1–28), die gesammelten Aufsätze (29–37), die Briefe (38) und den schriftlichen Nachlass (40–49). Die Abteilung Vorträge ist unterteilt in öffentliche Vorträge (51–86), Vorträge vor Mitgliedern der Theosophischen und Anthroposophischen Gesellschaft (87–270) und Vorträge zu einzelnen Lebensgebieten (271–354). Die Abteilung zum Künstlerischen Werk dokumentiert das plastische, malerische, grafische, architektonische und kunsthandwerkliche Schaffen Rudolf Steiners.
Der weitaus größte Teil der Gesamtausgabe (GA) geht zurück auf das Wirken Steiners als Vortragsredner, gründet also auf das gesprochene Wort. Rudolf Steiner hat seine Vorträge stets frei gehalten. Was uns von den Vorträgen überliefert ist, das sind, neben wenigen Skizzen und Entwürfen in Notizbüchern, anfänglich nur die stenografischen oder langschriftlichen Mitschriften aufmerksamer Zuhörerinnen und Zuhörern. Aufgrund dieser Mitschriften sind schon zu Lebzeiten Steiners interne, allein für Mitglieder bestimmte Manuskriptdrucke der Vortragszyklen hergestellt worden. Später hat Steiner eine professionelle Stenografin angestellt, um die Qualität der Vortragsmitschriften und damit der Drucklegung der Vortragszyklen zu gewährleisten; zu einer eigenen Durchsicht und Korrektur dieser Vortragspublikationen fehlte ihm aber die Zeit. Die fünfzig Zyklendrucke und die im Rudolf Steiner Archiv vorhandenen Stenogramme und Stenogrammübertragungen, deren schriftliche Redaktion nur in den allerwenigsten Fällen durch den Vortragenden selbst autorisiert wurde, sind die Grundlage für die Edition von über 300 Bänden in der Gesamtausgabe – eine weltweit wohl einzigartige editorische Situation. Steiner selbst unterschied klar zwischen dem Stellenwert des gesprochenen und demjenigen des geschriebenen Wortes: «Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung ‹Nur für Mitglieder› nicht zu bestehen gebraucht. […] Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das Bewusstsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muss das anhand der allgemein veröffentlichten Schriften tun.» («Mein Lebensgang»)
Die Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) ist nicht als historisch-kritische Edition angelegt, sondern soll als Lese- oder Studienausgabe mit dokumentarischen Anhängen zunächst einmal das Werk allgemein zugänglich machen. Nur für einige Bände wurde bisher eine kritische oder eine textgenetische Edition realisiert, an eine textkritische Ausgabe des gesamten geschriebenen Werkes unter Berücksichtigung aller Materialien und Textstufen kann erst nach Abschluss der Gesamtausgabe und der endgültigen Erschließung aller Archivmaterialien gedacht werden. Mit ihrer langen Geschichte ist die Rudolf Steiner Gesamtausgabe naturgemäß ein heterogenes Gebilde mit reinen Textbänden, reinen Vortragsbänden und zahlreichen thematisch-dokumentarisch ausgerichteten Bänden mit Vorträgen, Notizen, Briefen, Sitzungsprotokollen, Rundschreiben etc. Die aktuellen Editionsrichtlinien sind im Archivmagazin Nr. 5 (Basel 2016) publiziert.
Ein besonderer Stellenwert kommt in dieser Abschlussphase jenen Teilen des Nachlasses zu, die sich in Buchform nicht sinnvoll publizieren lassen: Das sind die 635 erhaltenen Notizbücher, die über 7000 Notizzettel sowie die umfangreiche Korrespondenz mit über 2000 Briefen von und 12000 Briefen an Rudolf Steiner. Während die Briefe von Steiner in mehreren Bänden in einer chronologisch geordneten, endlich vollständigen und zuverlässigen Edition erscheinen, werden die Notizbücher und die Notizzettel mithilfe digitaler Publikationskanäle vollständig erschlossen und zugänglich gemacht werden. Dafür ist ein ‹digitaler Band› eGA47/48 vorgesehen, der im Rahmen der GA online zugänglich gemacht wird.
Als Ergänzung zur Gesamtausgabe erschienen 1949 bis 2000 die «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» mit Studienmaterialien aus den Beständen des Rudolf Steiner Archivs zu einzelnen Bänden bzw. zu dort behandelten Themen sowie zu werkgeschichtlichen Zusammenhängen und einzelnen Schaffensperioden Rudolf Steiners. Seit 2012 finden die «Beiträge» mit dem jährlich erscheinenden «Archivmagazin» eine Fortsetzung und Ausweitung: Das «Archivmagazin. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv» publiziert regelmäßig Materialien, Dokumente, Forschungs- und Diskussionsbeiträge zur Steiner-Forschung sowie Wissenswertes aus dem Archiv und seinen Beständen.
Unzählige Materialien aus dem Nachlass, wie Akten, Fotografien, Eintragungen in Büchern, Alben, Plakate, Programme etc. gehören nicht im engeren Sinne zum Werk, sondern zum Wirken Rudolf Steiners und werden deshalb nie Eingang in die Gesamtausgabe der Werke finden. Für die Forschung und Arbeit mit diesen Materialien steht der Lesesaal des Rudolf Steiner Archivs im Haus Duldeck in Dornach zur Verfügung, gleichsam als «Fortsetzung der Gesamtausgabe mit anderen Mitteln».
David Marc Hoffmann, Leiter des Rudolf Steiner Archivs (bis 2025), Dornach
Zu Ihrer Entstehungsgeschichte
Waren Rudolf Steiners frühe Veröffentlichungen mit verschiedenen Verlegernamen verbunden – wie Kürschner, Spemann, Felber, Cotta, Altmann u.a. –, so war es ab demJahre 1908 fast ausschließlich seine Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Marie Steiner von Sivers, die die Publikation seiner Werke betreute.
Mit Steiners Eintritt in die Theosophische Gesellschaft im Jahre 1902 erfuhr insbesondere seine Vortragstätigkeit eine immense Ausdehnung. Allein in Berlin hat er über 1000 Vorträge gehalten. Insgesamt waren es über 6500. Durch die vor allem hiermit verbundene Reisetätigkeit war es ihm immer seltener möglich, die ihm von seinen Verlegern gesetzten Fristen einzuhalten. Um ihn von der Bürde des ständigen Arbeitens unter Termindruck zu befreien, gründete Marie (Steiner)-von Sivers im Jahre 1908 den «Philosophisch-Theosophischen Verlag» (später: «Philosophisch-Anthroposophischer Verlag»). Von nun an wurden dort seine geschriebenen Werke, vor allem aber die Mitschriften seiner Vorträge publiziert. Zu Lebzeiten Rudolf Steiners, also bis zum Jahre 1925, waren es, neben einer relativ kleinen Anzahl neuer Schriften, etwa 50 Vortragszyklen sowie zahlreiche Einzelvorträge. Bis zum Todesjahr von Marie Steiner (1948) – ihr war gemäß der von Rudolf Steiner getroffenen testamentarischen Verfügung das alleinige Recht an der Verwaltung seines gesamten Nachlasses und damit auch das der Herausgabe seiner Werke übertragen worden –, waren annähernd 500 Titel in dem von ihr geleiteten Verlag erschienen. Zur Weiterführung der herausgeberischen Arbeit nach ihrem Ableben gründete Marie Steiner, die vierzig Jahre lang die Leitung des Verlages und die Verantwortung für die Herausgabe der Schriften und Vorträge Rudolf Steiners innehatte, im Jahre 1943 die Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung, Verein zur Verwaltung des literarischen und künstlerischen Nachlasses von Dr. Rudolf Steiner.
Die Aufgabe zur Schaffung einer Gesamtausgabe
Hatte bereits die Gründung des Nachlassvereins testamentarischen Charakter, so verlieh Marie Steiner ihren Absichten zusätzlich Nachdruck, indem sie in ihrem Testament den Nachlaßverein zu ihrem Universalerben einsetzte. Im «Übereignungsvertrag» vom 1. Dezember 1947, also etwa ein Jahr vor ihrem Tod, hat sie die Aufgaben der Nachlassverwaltung so formuliert: «Die Mitglieder des Vereins der Nachlass-Verwaltung haben darüber zu wachen, dass die Herausgabe des Werkes von Rudolf Steiner nach Möglichkeit und bestem Wissen und Gewissen in dessen Sinn erfolgt, dass namentlich auch kein Raubbau an den geistigen Inhalten getrieben wird, und daß Rudolf Steiners Werk mit seinem Namen verbunden bleibt.
Das gesamte noch unveröffentlichte Werk Rudolf Steiners soll möglichst vor Ablauf der Schutzfrist veröffentlicht werden, wodurch am besten vermieden wird, daß Fälschungen an die Öffentlichkeit gelangen. Gekürzte oder schlechte Nachschriften müssen bearbeitet und in eine bessere Form gebracht werden, da gerade durch sie der gute Name Rudolf Steiners als Stilist geschädigt wird.
Die von Rudolf Steiner selbst geschriebenen und als Bücher erschienenen Werke sollen wenn immer möglich zu einer schönen Gesamtausgabe vereinigt werden. Das in Vorträgen und Notizen enthaltene Werk Rudolf Steiners ist zu einem geordneten, chronologisch, fachlich und einheitlich gegliederten Ganzen zu vereinigen und auch äußerlich in die bestmögliche Form zu bringen und als eine zweite Kategorie in die Gesamtausgabe der Werke einzureihen; als weitere Kategorien die noch nicht gedruckten, gekürzten Nachschriften oder Aufzeichnungen, die im Dornacher Archiv vorhanden sind, ferner die unvollständigen oder gekürzten Nachschriften und Notizen aus den Jahren 1902–1912.»
Das Entstehen der Rudolf Steiner Gesamtausgabe
In der Folgezeit konzentrierte sich die Tätigkeit der Nachlaßverwaltung auf drei Bereiche: die Sichtung, Ordnung und Pflege des Nachlasses, die Herausgabe der Gesamtausgabe, mit der 1955/56 begonnen wurde, und die verlegerische Arbeit, für die der Rudolf Steiner Verlag, bis 2006 der Nachlassverwaltung angeschlossen, seit 2007 als eigenständige Aktiengesellschaft firmierend, verantwortlich zeichnet.
Im Unterschied zu vergleichbaren editorischen Unternehmungen hat es eine ausgiebige Planungsphase bzw. Vorbereitungszeit, in der die Archivbestände bis ins einzelne erfaßt und ausgewertet worden wären, im eigentlichen Sinne nicht gegeben. Einerseits drängte die Zeit, mit der Publikation noch unveröffentlichter Texte zu beginnen, da die Schutzfrist ursprünglich im Jahre 1955 ablaufen sollte. Wenige Monate vor diesem Zeitpunkt wurde sie dann auf 50, später sogar auf 70 Jahre verlängert. Andererseits hätten bei dem außergewöhnlichen Umfang des Steinerschen Nachlasses (Tausende von Vortragsnachschriften und Notizzetteln, einige hundert Briefe, Notizbücher, Skizzen usw.) entsprechende Vorarbeiten viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch genommen, was bedeutet hätte, daß ein wesentlicher Teil des Werkes von Rudolf Steiner über einen langen Zeitraum der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung gestanden hätte. Dies konnte jedoch aufgrund des großen Interesses und der mit dem Werk verbundenen Aufgabenstellungen nicht in Betracht kommen. Das erklärt auch, daß seit Beginn der Herausgabe immer wieder gewisse Veränderungen bei der Zusammenstellung einzelner Vortragsbände sowie Korrekturen bei neu aufzulegenden Bänden notwendig wurden, was aber letztlich der Authentizität der Texte, ihrer systematischen und chronologischen Zuordnung sowie der Handhabung des Werkes in seiner Gesamtheit zugute kam bzw. kommt. Obwohl heute die Schutzfrist abgelaufen ist, bezieht sich diese nur auf Ausgaben, die vor 70 Jahren erschienen sind, auf die editierten Bände der Gesamtausgabe hat der Verlag nach wie vor das Copyright inne.